Der “neue Mensch” und das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/1919: Philosophie, Humanwissenschaften, Literatur

Datum/Zeit
​Do 23/02/2017–​Fr 24/02/2017
Ganztägig

Ort
Aula am Campus (Altes AKH)

Typ
Tagung

Die Losung von der “Revolutionierung der Köpfe”, die “jedem dinglichen Umsturz vorangehen” müsse – ausgegeben von Kurt Hiller in der bereits 1916 veröffentlichten programmatischen Schrift “Philosophie des Ziels” –, umreißt die Funktionsbestimmung, welche die Philosophie, die Wissenschaften vom Menschen wie Nationalökonomie, Soziologie oder Psychologie, schließlich auch die Literatur im Zusammenhang der politischen und sozialen Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg in Mitteleuropa erhielten. Dem Motiv des “neuen Menschen” kam dabei eine die einzelnen Diskurse bündelnde Rolle zu. Im Zuge der Revolution entstandene Institutionen wie die Arbeiter- und Soldatenräte, die kontrovers debattierte Überführung der Kriegswirtschaft in eine sozialisierte Wirtschaft, die Veränderung der Geschlechterverhältnisse oder die aus der Fronterfahrung hervorgegangene “Gesinnungsrevolution” (Max Scheler) der Jugend wurden als Zeichen eines umfassenden sozialen wie auch geistigen Transformationsprozesses und als Ansatzpunkte seiner gesellschaftstechnischen Herbeiführung gedeutet. Der an Politik, Künste und Wissenschaften gerichtete Ruf nach einer umfassenden und tiefgreifenden Erneuerung erwuchs nicht nur aus dem Kollaps der überlieferten Sinnangebote im Krieg und aus den Erfordernissen der Einrichtung des demokratischen Gemeinwesens; in ihm verdichtete sich eine zum Utopismus neigende und geschichtlich folgenreiche Erwartungshaltung.

Die interdisziplinäre Tagung soll den “neuen Menschen” als zentrales Motiv eines auf die historischen Ereignisse reagierenden, sich in Form von wissenschaftlicher Theoriebildung, gesellschaftstechnischen Entwürfen, literarischen Figurationen, politischen Experimenten u.a. manifestierenden Imaginationsprozesses untersuchen.

Programm

Donnerstag, 23.2.

Panel 1: Kritische Observationen

  • 9.15-9.30: Begrüßung
  • 9:30-10:30: Alexander Wierzock: „Nicht Kartenhäuser oder Luftschlösser, sondern einen Tempel des Geistes und der Gesittung“. Ferdinand Tönniesʼ Verhältnis zu den revolutionären Erneuerungshoffnungen 1918/19.
  • 10:45-11:45: Christian Marty: Keine Spur vom Adel unserer Natur. Max Webers Kritik am „Revolutionskarneval”. 

Panel 2: Kategorien des Neuen

  • 12:00-13:00: Francesca Vidal: Zur Kategorie des ‚Neuen‘ bei Ernst Bloch: Geist, der sich erst bildet.
  • Mittagspause
  • 14:30-15:30: David Schkade: Russische Avantgarde im Exil: Wassily Kandinsky und Alexandre Kojève über den „neuen Menschen“.

Panel 3: Neuer Staat für neue Menschen

  • 15:45-16:45: Clemens Reichhold: Revolution und Romantik. Zur sittlichen Erneuerung im sozialen “Volksstaat” bei Walther Rathenau.
  • 17:00-18:00: Albert Dikovich: Sachlichkeit und Herrschaft der Idee. Philosophie und Modelle apolitischen Regierens nach 1918. 
  • 18.00-18:30: Buffet

Abendvortrag:

  • 18:30-20:00: Karl-Heinz Lembeck: Die Menschwerdung des transzendentalen Subjekts.

Freitag, 24. 2., Aula am Campus, Universität Wien

Panel 4: Katastrophen- und Heilslehren

  • 9:00-10:00: Michael Gormann-Thelen: „Woran Marx scheiterte, da hatte Rosenstock Erfolg“. Eugen Rosenstocks Katastrophenmorphogenese von Revolution und Zirkumvolution.
  • 10:15-11:15: Francesco Barba: „Ich Staub und Asche, Ich bin noch da“. Krisis des Denkens, neuer Mensch und johanneische Gemeinde bei Hans Ehrenberg und Franz Rosenzweig.

Panel 5: Politiken des Lebens und der Geschlechterverhältnisse

  • 11:30-12:30: Enikő Darabos: Vorstellungen über Sexualethik und -praxis des „neuen Menschen”. Experimente, Diskurse, Auseinandersetzungen.
  • Mittagspause
  • 14:00-15:00: Katharina Neef: Rudolf Goldscheids Menschenökonomie: Biopolitik und soziale Revolution.
  • 15:15-16:15: Veronika Helfert (Wien): „… dass ein Revolutionär in Lagen kommen kann, in der er aus Treue zur Revolution Gewalt anzuwenden hat.“ Sozialistinnen zwischen Pazifismus und Militanz.

Panel 6: Politik der Literaten

  • 16:30-17:30: Annamária Biró: Zwei ungarische Varianten des deutschen Aktivismus.
  • 17:45-18:45: Sebastian Schäfer: Der Journalist und Pazifist Rudolf Olden: Vom Unpolitischen zum Pan-Europäer. Moralische Erneuerung im Zeichen moderner Kulturkritik.
  • 18:45-19:00: Verabschiedung

Vortragende

Francesco Barba: freier Wissenschaftler, Kassel.
Annamária Biró: Lektorin im Fach Literaturwissenschaft an der Universität Babeş-Bolyai in Cluj (Klausenburg).
Enikő Darabos: Universitätsdozentin im Fach Literaturwissenschaft an der Westungarischen Universität, Szombathely.
Albert Dikovich: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie.
Karl-Heinz Lembeck: Professor für theoretische Philosophie an der Julius Maximilians Universität  Würzburg.
Christian Marty: Doktorand der Geschichtswissenschaften an der Universität Zürich.
Katharina Neef: wissenschaftliche Mitarbeiterin am Religionswissenschaftlichen Institut Leipzig und am Zentrum für Lehrerbildung der TU Chemnitz.
Clemens Reichhold: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften der Universität Hamburg.
Sebastian Schäfer: Doktorand der Politikwissenschaft an der TU Chemnitz.
David Schkade: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der FAU Erlangen-Nürnberg.
Michael Gormann-Thelen: freier Lektor und Religionswissenschaftler.
Veronika Helfert: Assistentin am Institut für Geschichte der Universität Wien.
Francesca Vidal: Universitätsdozentin am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz-Landau.
Alexander Wierzock: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen.

Konzeption und Organisation

Albert Dikovich

Eine Kooperation von: Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, IWK
Gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und die Österreichische Forschungsgemeinschaft (ÖFG)